Am 1. August machten wir uns (Schwester Maria Dolores und Heike Schmidt-Teige) auf den Weg nach Brasilien, nachdem wir ungeplante Turbulenzen gemeistert hatten. Zum Zeitpunkt des vereinbarten Aufbruchs am Bergkloster Bestwig fehlte just in time der Reisepass von Schwester Maria Dolores und war trotz intensiver Suchbemühungen nicht auffindbar. Doch kleine Wunder gibt es immer wieder! Nachdem sie in stillem Gedenken mehrere Heilige bemüht hatte, geschah das Unfassbare und wir konnten nach einem biometrischen Fototermin mit anschließendem Behördengang mit knapp 40 Minuten Verspätung unsere Reise antreten, im Gepäck einen druckfrischen Ersatzreisepass einer deutschen Verwaltung. Absolut rekordverdächtig.
2. August 2016
Nach weiteren witterungsbedingten Turbulenzen während des Fluges landeten wir um 4.13 Uhr in Sao Paulo. Dank gebuchtem Rollstuhltransport, spontan gefundenen Koffern und freundlichem Zoll waren wir in Windeseile am Ausgang. Irma Aurora und Schwester Maria Ludwigis holten uns aufgrund des im Vorfeld angekündigten umfangreichen Reisegepäcks mit einem Taxibus am Flughafen ab. Den 3-stündigen Weg nach Leme begannen wir mit einem kleinen Frühstück.
Dreieinhalb Stunden später waren wir in Leme und wurden mit Freude im Provinzhaus willkommen geheißen. Die Kinder des Centro Educacional begrüßten uns mit fröhlicher Musik und Gesang und die Schwestern freuten sich über den Besuch.
Nach ausgiebiger Stärkung und einer kurzen Begrüßung unserer drei deutschen Missionarinnen auf Zeit, die drei Tage früher angekommen waren, war nun erst mal eine kleine Ruhepause notwendig. Nachmittags starteten wir dann mit Sabine Stephan und Schwester M. Ludwigis zu einer kleinen „Stadtrundfahrt“, um uns einen ersten Eindruck von Leme und seinen sozialen Brennpunkten zu verschaffen.
Auf den ersten Blick ein Stadtbild wie jedes andere. Menschen und Fahrzeuge auf den Straßen ohne besondere Auffälligkeiten. Eben buntes Treiben. Je näher man aber an die Stadtgrenzen kam, umso dürftiger wurde die Infrastruktur. Zunächst fielen uns viele abbruchreife Behausungen und Baracken mit unzähligen Menschen davor auf. Es schien so, als ob sie mit sich und ihrer Zeit nichts anfangen können. Dier Arbeitslosenquote in Brasilien wird aktuell mit 9,2 Prozent angegeben. Da dies strukturell bedingt unterschiedlich ist, scheint die Quote in Leme höher zu sein. Vor den Türen der Stadt gibt es nach wie vor u.a. große Anbauflächen für Zuckerrohr. Für Arbeiten zu Erntezeiten werden aber nicht mehr wie vor einigen Jahren Arbeiter eingestellt. Diese wurden mit der Zeit von den großen Agrarbauern, die immer weitere Felder von kleinen Bauern aufkauften, durch Maschinen ersetzt. Viele Familienväter verloren dadurch in den letzten Jahren ihr Einkommen, weil keine oder kaum Arbeit angeboten wird. Bedarfsweise erledigen sie zeitweise als Tagelöhner Gelegenheitsjobs, wissen aber dennoch oft nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen.
Dann durchfuhren wir das im vergangenen Jahr im Eiltempo durch die Stadt erbaute Wohngebiet Empirio 1. Hunderte von kleinen Häusern mit max. 2 – 3 Zimmern wurden mit einem Abstand von rund eineinhalb Metern nebeneinander hochgezogen. Zwischenzeitlich wird schon ein Empirio 2 in gleicher Bauweise direkt angrenzend gebaut, erneut entstehen 1.000 kleine Häuser für Menschen, die dringend Wohnraum benötigen.
Bewohnt bzw. genutzt werden diese Häuser von Familien oder alleinerziehenden Müttern mit bis zu 7 Kindern. Teilweise werden die Häuser gemietet, teils auf Mietkauf erworben für monatliche Beträge zwischen 26 und 70 Real (7,50 und 20 €). Für deutsche Verhältnisse scheint das zunächst ohne weiteres erschwinglich zu sein, aber in Leme ist es für die betroffenen Familien kaum aufzubringen. Viele Frauen sind alleinerziehend mit mindestens 3 bis 4 Kindern, ohne Arbeit und Unterhaltszahlungen, leben vom Kindergeld, das 20 bis 30 Real pro Kind (6,70 € bis 8,60 €) beträgt.
Oft müssen die Kinder auf alten Matratzen schlafen, die auf den Küchenboden gelegt werden, denn der Wohnraum ist zwar neu erbaut, aber die Ausstattung bleibt die alte, die kaum noch als solche bezeichnet werden kann. Mangels Arbeit und somit fehlendem Einkommen kommt es nicht selten dazu, dass in kürzester Zeit Strom und Wasser abgestellt werden, Geld für Lebensmittel gibt es ohnehin nicht. Die letzte Hoffnung ist Schwester Maria Ludwigis. Kilometerlange Fußmärsche werden in Kauf genommen, um morgens um 8:00 Uhr vor ihrem Büro in der Stadt zu stehen, ein paar wenige Real zu erbitten, ein offenes Ohr zu finden, einen Rat zu bekommen. Bis zu 70 und mehr Menschen suchen an drei Tagen wöchentlich Halt und Unterstützung. „Ich bin nun seit 58 Jahren in Leme, aber eine solche Not wie heute hat es noch nicht gegeben“, sagt Schwester Marie Ludwigis mit traurigem Blick.
Immer häufiger bitten die Menschen um Unterstützung beim Bau einer Mauer um ihr Haus im Empirio, um etwas Intimsphäre zu haben oder sich zu schützen vor Übergriffen von noch ärmeren Menschen. Die ist auch notwendig, um sich gegen die zu verteidigen, die ihnen das nehmen wollen, was sie selbst nie erfahren durften oder bereits verloren haben, nämlich Stolz und menschliche Würde.
Während wir durch das Empirio fuhren, gab, wie von Gottes Hand geführt, unser altes klappriges Schwesternauto inmitten dieser Wohnsilos seinen Geist auf. Geschenkte Zeit für Eindrücke und Begegnung. Hilfe wurde rasch angeboten, von den Menschen, die dort wohnen und die selbst nichts haben.
3. August 2016
Nach dem Frühstück marschierten wir ins Beratungsbüro von Schwester Maria Ludwigis. Vor der Tür wartete bereits eine größere Menschenmenge, um Hilfe für ihre ganz persönlichen Nöte zu erbitten. Sei es eine Mutter von 5 Kindern, die noch heute aus ihrer Bleibe ausziehen muss in eine andere und nicht weiß, wie sie die Miete von 300 Real (85 €) dafür aufbringen soll. Sei es ein von Krankheit gezeichneter Mann, der seine Arbeit verloren hat und nicht weiß, wie er seine Medikamente zahlen soll. Sei es ein Junge, der eine Bleibe sucht, und, und, und. Ganz vielschichtige persönliche Schicksale, für die es oft keine Lösung gibt und sich das Gefühl von Trauer und Hilflosigkeit breit macht.
Heute Morgen waren es 66 Bedürftige. In der Nachmittagssprechstunde geht es weiter, es ist nicht ausgeschlossen, dass nochmals so viele kommen werden.
Am späten Vormittag fahren wir mit Irma Aurora und Sabine Stephan ins Altenheim Recanto Placida. 45 Bewohner können dort stationär untergebracht werden und in Würde ihrem letzten Lebensabschnitt entgegensehen. Helle, freundliche Zimmer, menschenwürdige Betreuung und Pflege, gutes Speisenangebot, ein großer Garten mit Voliere, Therapieangebote und als neue Ergänzung gibt es 25 Plätze in der Tagespflege. Der erste Patient zieht in Laufe der Woche in die Tagespflege ein.
Ende August werden auch dort zwei Missionarinnen auf Zeit ihren freiwilligen Einsatz für bis zu 12 Monate beginnen. Der Leitsatz der Einrichtung Recanto Placida ist „A Servicio da vida“, das bedeutet sinngemäß „Ein Dienst für das Leben“.
Nachmittags fahren wir mit Sabine Stephan zu Familienbesuchen an den Stadtrand. Die Not und Armut in den zerfallenen Hütten, der Schmutz und die vorgefundenen hygienischen Bedingungen sind absolut menschenunwürdig. Das Dach ist undicht, alles ist muffig. Eine Frau wohnt mit ihren 6 Kindern in einer Hütte mit zwei Betten. 4 Kinder teilen sich eines der Betten, die beiden anderen schlafen auf einem Steinboden auf dünnen Matratzen oder Wolldecken.
4. August 2016
Am Vormittag informierte uns Irma Aurora in einem Gespräch unter Teilnahme von Frau Stephan über ihre Gedanken und Vorstellungen, wie künftig die Sozialarbeit in Leme nachhaltig auf breite Füße gestellt werden kann. Die offizielle Anerkennung des Zweiges Soziale Arbeit ist beantragt, aber die Anerkennung steht noch aus. Der Fokus sollte zunehmend auf den Bereich Bildung und Ausbildung gelegt werden, um den Menschen Wege aufzuzeigen, sich selbst eine bessere Zukunft zu schaffen und zu gestalten
Nach dem Mittagessen starten wir mit Sabine Stephan und den MaZ, hier liebevoll „die Mädchen“ genannt, in die Begegnungsstätte im Imperial, einem der 58 Stadtrandbereiche (Bairras) von Leme. Wir fuhren mit dem VW Bus (auch genannt Kombi), der schon 46 Jahre treue Dienste leistet. Es war ein einziges Abenteuer. Jede noch so kleine Unebenheit der Straße katapultierte uns mit einem Satz an die Decke des Gefährtes. So ähnlich muss sich ein Rodeoritt anfühlen. Im Imperial angekommen, wurde zunächst mit den ersten Kindern, die kamen, Memory gespielt.
Dann übte Sabine Stephan mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen sowie den drei MaZ, den beiden „Praktikantinnen“ und uns einige Lieder ein für die bevorstehende Feier zu den 90. Geburtstagen von Schwester Maria Ludwigis und Irma Ana Soares am Sonntag.
5. August 2016
Nach der morgendlichen Messe ging es nach dem Frühstück mit dem Bus ins Empirio. Zum einen verteilten die MaZ´ler Einladungen an unzählige Familien zum Geburtstag von Schwester M. Ludwigis. Zum anderen besuchten wir einige Familien, um uns die Wohnsituation anzusehen und kleine Geschenke für die Kinder vorbeizubringen. Und aufs Neue war es fast unerträglich, die Armut der Menschen zu sehen. Sie wissen nicht, was sie morgen ihrer Familie zum Essen geben sollen oder ob Strom und Wasser nicht bereits abgestellt sind. Sie haben kein Geld, keine Arbeit, keine Perspektive, dennoch bewahren Sie sich ihre Würde.
6. August 2016
Heute besuchen wir den Stadtrand in Bonsucesso, der ebenfalls einer der 58 Bairras Lemes ist. Im neu etablierten Begegnungszentrum ist Irma Élia dabei, Kindern an diesem Vormittag Gitarrenunterricht zu geben. Im Begegnungszentrum wurde erst vor kurzem eine Suppenküche eingerichtet, die momentan zunächst nur montags in der Zeit von 11:00 Uhr bis 12.30 Uhr bedürftigen Menschen kostenfrei eine Mahlzeit bereitstellt. Die Menschen kommen mit Behältern, um das Essen mit nach Hause zu nehmen. Sie werden einmalig registriert mit den erforderlichen Angaben zu ihrer familiären Situation wie beispielsweise Anzahl der Familienmitglieder. Sie erhalten dann eine Identitätskarte, die sie bei jedem Aufsuchen der
Suppenküche mitbringen. Die Helfer wissen dadurch sofort, für wie viele Personen sie Essen mitgeben sollten.
Darüber hinaus werden sukzessive weitere Kursangebote aufgebaut. Dazu gehören u.a. der Nähkurs, Computerkurse, Tanzkurse, Maniküre- und Pediküre und der Capoeirakurs.
Anschließend zeigte uns Irma Aurora einige exklusiven Stadtbereiche von Leme. Wohngebiete von gut situierten Menschen, die sozusagen hinter Gittern wohnen, weil deren Häuser in geschützten Wohnanlagen beheimatet sind. Diese Wohnanlagen gleichen Ferienanlagen in touristisch erschlossenen Gebieten, geschützt durch Gitter mit Elektrozäunen sowie Wachpersonal.
Danach besuchten wir den Friedhof von Leme. Tausende von Gräbern am Rande einer 2 km langen Allee, an deren Ende ein riesiges Holzkreuz steht. An den Gräbern der Schwestern verweilten wir mit einem kurzen Gebet in stillem Gedenken.
Am Nachmittag sind wir nochmals in Bonsucesso, weil wir uns eine Kurseinheit des Capoeirakurses anschauen wollen. Schon sehr beeindruckend, mit welcher Disziplin die jungen Leute zwischen 6 und ca. 25 Jahren diese berührungsfreie akrobatisch angereicherten Techniken ausführen.
Die ersten Tage in Leme waren sehr informativ und hilfreich für die weiteren Planungen zur Förderung der Arbeit vor Ort. Gleichfalls waren diese Tage aber auch sehr belastend. Die unterschiedlichen Formen der täglich zunehmenden Not sind nur schwer in Worte zu fassen. Aber wir sind sehr froh, dass Sabine Stephan, eine Frau mit Sachverstand und einem goldenen Herzen, in Leme tätig ist, sich mit viel Engagement für die soziale Arbeit einsetzt und in die Umsetzung der Projekte eingebunden wird.
Fortsetzung folgt in Kürze.